Vor ein paar Wochen rieb mir meine Kollegin einen Artikel aus der Lokalzeitung unter die Nase: darin beklagt sich ein Herr Dr. Raffke bitterlich darüber, dass er seine Praxis schließen muss. Dr. Raffke ist Hausarzt in einem kleinen Dorf bei uns in der Nähe. Obwohl er „händeringend“ nach einem Nachfolger gesucht hatte, sei niemand zu finden gewesen. Die jungen Ärzte wollen halt heutzutage einfach nicht mehr… In diesem Moment hätte ich den Herrn Kollegen gerne mit seinem eigenen Stethoskop erdrosselt. Denn was er da von sich gab, war eine glatte Lüge.
Ich selbst hätte seine Praxis sehr gerne übernommen, aber Dr. Raffke wollte sie mir nicht geben. Trotz monatelanger Verhandlungen sind wir uns nicht einig geworden. Herr Dr. Raffke will von seinem Nachfolger Geld sehen. Er weiß auch genau, wie viel: Er hat sich nämlich ein Wertgutachten erstellen lassen. Aufgrund von Umsatz- und Gewinnzahlen der letzten Jahre ist da ein ziemlich stolzes Sümmchen herausgekommen.
Ich habe mir daraufhin sehr genau angeschaut, was ich für das Geld bekommen würde:
Nämlich kaum mehr als die Patientenkartei und dazu als Dreingabe ein paar vergammelte Möbel und veraltete Geräte, die eigentlich auf den Sperrmüll gehören. Spätestens in zwei oder drei Jahren sind größere Investitionen fällig.
Im Dorf hat es sich längst herumgesprochen, dass der Herr Doktor bald in den wohlverdienten Ruhestand tritt und die Patienten sind teilweise schon zu den Ärzten der Nachbarorte abgewandert.
Anstatt die Kaschemme von Herrn Raffke zu übernehmen, kann ich auch anderswo Räume anmieten, anschließend mein Geld für vernünftige Möbel und ein paar neue Geräte ausgeben und dann der Dinge harren. Natürlich wird es eine Weile dauern, bis sich herumgesprochen hat, dass da nun ein neuer, junger und dynamischer Doktor im Ort ist – aber das Risiko ist kalkulierbar. Abgesehen davon, dass man angesichts der unklaren politischen Lage derzeit überhaupt kaum vorhersehen kann, was ein Hausarzt in den nächsten Jahren verdienen wird. Mit Sicherheit wird es weniger sein als das, was Herr Raffke in der Vergangenheit hat einsacken können.
Ich machte ihm also ein Gegenangebot. Aber Herr Dr. Raffke war kaum zu Zugeständnissen bereit. Die Praxis war schließlich sein Lebenswerk. Den verlangten Preis hielt er für fair und ich der ich versuchte ihn zu drücken war in seinen Augen ein Halsabschneider. „Was stellen Sie sich denn so an?“ fragte er kopfschüttelnd, „Die Bank gibt Ihnen doch das Geld!“ Schon wahr. Aber die Bank will ihr Geld auch wieder zurück haben, mit Zinsen. „Zahl ihm, was er verlangt!“ raunte mir ein anderer Kollege zu, „sonst macht er im Ort noch schlechte Stimmung gegen Dich!“
Meine gute Tante Klara sammelte Sammelteller. Diese Dinger waren furchtbar wertvoll. Jedem, der es wissen wollte, zeigte sie den Katalog, in welchem jeder einzelne Teller mit mehreren hundert Mark ausgezeichnet war. Als Tante Klara dann im seligen Alter von neunundachtzig Jahren starb, verkauften wir die Teller an einen Trödler, für zwei Mark das Stück. Ein besseres Angebot hatten wir nicht finden können. Auch Dr. Raffke konnte offenbar kein besseres Angebot finden. Jetzt steht seine Praxis leer.
Die Kollegen einer großen Gemeinschaftspraxis im Nachbarort überlegen, hier eine Filiale zu gründen. Ich wünsche ihnen viel Erfolg.
Anmerkung: Dieses Beispiel ist fiktiv. Dem liegen jedoch echte Erlebnisse und Erfahrungen zugrunde.
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