Über 135 000 Demonstranten waren am 25. September am Brandenburger Tor in Berlin zur Großdemonstration gegen die Situation in den Krankenhäusern gekommen. Wer innerhalb der letzten Jahre als Kassenpatient in einem Krankenhaus war oder als Mitarbeiter in einem Krankenhaus gearbeitet hat, der weiß, was die Motivationen sind an einem solchen Protest teilzunehmen. Gerne wird über die Massenmedien die für den Normalbürger riesig anmutende Summe von 3,2 Milliarden Euro als Hilfspaket genannt, ohne dass erläutert wird, wohin das Geld fließt, was sich dadurch an welcher Stelle konkret ändern kann. Es erscheint so, dass das Geld doch locker ausreichen müsste, wie das Ulla Schmidt behauptet und die Deutsche Krankenhausgesellschaft schön rechnet. Für den Mitarbeiter der Krankenhäuser stellt sich die Sicht genau gegenteilig dar: Gerade in den Krankenhäusern mit privatem Klinikträger haben die Verwaltungen die Macht übernommen, wie der scheidende Chefarzt Dr. Wolfgang Storm im Deutschen Ärzteblatt vor einer Woche so eindrucksvoll darstellte
Link: Deutsches Ärzteblatt Nr. 38. Wer wie der Autor dieses Textes in einem in den letzten Jahren privatisierten Krankenhaus der Grund- und Regelversorgung gearbeitet hat, der weiß, dass es keine Übertreibung ist und dass die vielen Theoretiker den Ernst der Lage noch nicht erkannt haben.
Man muss es offensichtlich erlebt haben, um es zu glauben. Im Vergleich zu den USA müsse eine Pflegekraft hierzulande 20 und nicht 13 Patienten betreuen, schreibt die Frankfurter Rundschau in ihrer Ausgabe vom 26. September auf Seite 4. Auch bei den Ärzten sieht es nicht besser aus. In Deutschland versorgt im statistischen Jahresschnitt jeder Arzt 146 Patienten, im Unterschied zu 120 in Großbritannien, 102 in Norwegen und 69 in der Schweiz, sagte der 1. Vorsitzende des Marburger Bundes, Rudolf Henke, in seiner Rede vor den Demonstranten in Berlin. Doch diese Zahlen reichen nicht aus, ein Bild vor dem geistigen Auge zu erzeugen, was es heißt, wenn das Personal hoffnungslos überlastet ist. Da liegen Patienten mit Schlaganfall, die sich kaum noch bewegen können eine halbe Stunde oder länger im Bett, bis sich jemand um sie kümmern kann, wenn sie geklingelt haben. Da sterben nachts Patienten mit Luftnot, weil es für 40 Patienten nur eine Schwester gibt, die nur alle vier Stunden bei jedem Patienten sein kann. Ärzte, die direkt von der Uni kommen und noch nicht in ihrem Krankenhaus eingearbeitet sind, werden zum Dienst alleine für das ganze Haus eingeteilt, weil die Verwaltungen keine Ärzte von den Facharztagenturen besorgen wollen. Aus Kostengründen. Jeder Arzt weiß, wie viele Fehler man am Anfang macht, wenn man keine gute Betreuung durch Kollegen und Chefs erfährt, weil eine Einarbeitungsphase nicht mehr eingerechnet wird. Wir schlagen vor, dass jeder Entscheidungsträger unangekündigt und inkognito einmal in die Krankenhäuser geht und sich das Elend ansieht.
Die Zahlen verschleiern auch noch anderes: Ärzte leisten hierzulande Arbeit, die außerhalb Deutschlands nicht Arztsache ist. Bürokratie bis zum Abwinken, Abrechnung der Krankenhausleistung durch Kodierungen der Diagnoseziffern, Blutabnehmen, Infusionen anhängen, Infusionsnadeln legen. International gesehen sind das alles keine Aufgaben der Ärzte. Auch die Pflegekräfte tun nicht das, was sie gelernt haben, sondern bereiten Stundenlang die Pillen der Patienten vor, die sie mühsam aus den Schachteln in die Patientendispenser hineinsortieren und mehrfach kontrollieren müssen. Sie verteilen das Essen und räumen es wieder ab. Im Ausland, wie in England, ist es Aufgabe der Apotheke, die Medikamente vorzubreiten, die in Plastiktäschchen eingepackt und mit Patientenetikett versehen die Station erreichen. Um das Essen der Patienten kümmert sich separates Personal. Doch den Kliniken ist das noch nicht genug. So werden in den Kliniken vermehrt Pfleger und Schwestern auch als Hol- und Bringedienst eingegesetzt. Das heißt, die Pflegekräfte müssen die Patienten auch selbst über weite Wege zu den Untersuchungen fahren und wieder abholen. Nebenbei Bürokratie, die Ärzte auf den Visiten begleiten und die gesamte Station versorgen. Wer das einmal miterlebt hat, weiß, dass das nicht lange gut geht. In Notfallsituationen ist dann niemand da, der schnell und gezielt eingreifen kann. Sogar Putzfrauen wurden zeitweise als Boten für Patientenunterlagen eingesetzt, um die Personalzahl knapp zu halten.
Dass die Patientenverweildauer vom 14,7 Tagen im Jahr 1990 auf acht Tage zurückgegangen ist, bedeutet zweierlei: Früher waren die Patienten wirklich länger im Krankenhaus als notwendig, heute sind sie es oft kürzer als notwendig. Wer die Berichterstattung über die Beschwerden der Praxisärzte über die Rhön AG verfolgt hat, wie schlecht die Patienten in der vor einigen Jahren privatisierten Universitätsklinik Gießen-Marburg versorgt würden und wie halbfertig behandelt sie entlassen würden, der weiß, dass das System hat. Die Rhön AG wiegelt ab, rechnet die Gewinne vor, wie das ein marktwirtschaftlicher Konzern eben so tut, der nicht wegen seiner Ethik die Kliniken übernommen hat. Doch die Bundesregierung möchte die Krankenhausanzahl durch einen besonders scharfen Wettbewerb reduzieren. Welche Auswirkungen das auf Arbeitsatmosphäre und Umgang mit Patienten hat ist vielen nicht klar. In den Rehakliniken werden die Gutachten für Rentenversicherungen geschönt, damit die Klinik besser dasteht als andere, in den Akuthäusern werden die Fallzahlen künstlich erhöht und die Diagnosen so verschlüsselt, dass der sogenannte Case-Mix-Index ein besseres Bild mit kränkeren Menschen abbildet. Aber wo bleibt die Ethik? Wo bleiben die Menschen? Das Fragen sich die Klinkmitarbeiter schon lange. Deshalb sind sie jetzt auf die Strasse gegangen, deshalb waren sie in Berlin.