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Erfahrungsbericht eines Rollentausches, Teil 2
Im deutschen Gesundheitssystem sind schwerkranke Patienten arm dran, weil vor lauter Beschäftigung mit Wehwehchen keine Zeit mehr für sie bleibt, schrieb sinngemäß Dr. Harald Kamps letzten Sommer im Deutschen Ärzteblatt. Wie wahr diese Aussage ist, musste ich an diesem Weihnachtsfest zum zweiten Mal innerhalb von kurzer Zeit erfahren, als ich mich erneut vom Arzt in einen betroffenen Angehörigen verwandelte. Am ersten Weihnachtsfeiertag war ich zu Besuch bei meiner 82jährigen Tante in einer ländlichen Gegend Mittelhessens. Eine Woche zuvor war sie nach einer Brustkrebsoperation aus der örtlichen Klinik entlassen worden. Sie selbst wollte ihre Prognose gar nicht wissen, doch auch ihre Familie war im Krankenhaus nicht über das Ausmaß der Erkrankung informiert worden.
Nur ich als Mediziner konnte die Abkürzungen auf dem kaum leserlichen handgeschriebenen Entlassungsbrief entziffern: T1, N2, M1 (Pulmo, Mesothel) stand dort geschrieben. Ein Tumor kleiner als 3 Zentimeter also, der bereits Metastasen in die Lymphknoten, die Lunge und das Rippenfell gestreut hatte. In der Klinik hatte man lediglich ein Mittel verschrieben, welches das Wachstum des Tumors verlangsamen sollte, um die starken Rippenschmerzen meiner Tante hatte man sich nicht gekümmert. Der Hausarzt hatte am Tag vor Heiligabend dreimal täglich Paracetamol 500 mg verordnet, eine Schmerzmedikation die für einen mittelstarken Spannungskopfschmerz genügend sein mag, einer Patientin mit Rippenfellmetastasen aber rein gar nichts bringt. Nun stand ich also am ersten Weihnachtsfeiertag am Bett meiner Tante, die sich vor Schmerzen krümmte und weinte und die gesamte Familie stand ratlos um uns herum. Um 15 Uhr rief ich in der 13 km entfernten Praxis des ärztlichen Bereitschaftsdienstes an. Die Dame an der Anmeldung sagte mir, die Ärztin hätte noch 12 Patienten in der Praxis, aber sie würde ihr möglichstes tun, um meiner Tante zu helfen. Nachdem um 17 Uhr noch niemand gekommen war, rief ich noch mal an: die Praxis sei zum Überlaufen voll, vor 23 Uhr könne die Ärztin nicht kommen. Dann wurde ich zum Glück mit der Ärztin direkt verbunden und diese bot mir an, dass ich persönlich in der Praxis vorbeikommen und eine Morphintablette abholen könne. In der Praxis angekommen stellte ich fest, dass ich die Bereitschaftsärztin noch aus Studientagen kannte. Diesem Umstand hatte ich es zu verdanken, dass sie mir ihren gesamten Opiatvorrat aushändigte: 4 Tabletten Morphin retard 10 mg. Ein Betäubungsmittelrezept, welches man zum Verordnen eines Opiats braucht, besaß sie leider nicht. Die Schmerzmedikation bis Samstagmorgen war aber zumindest gesichert. Das Medikament nahm meiner Tante die Schmerzen zwar nicht völlig, aber deutlich besser als Paracetamol alleine.
Doch am Samstagmittag standen wir wieder ohne ein ausreichendes Schmerzmittel da und ich rief die nächste Dienstärztin. Diese schaffte es zwar, nach nur 4 Stunden persönlich bei meiner Tante zu sein, besaß aber leider ebenfalls kein Betäubungsmittelrezept. Es sei ihr verboten, ein Betäubungsmittel zu rezeptieren sagte sie und bewies damit, wie schlecht sie informiert war. Jeder approbierte Arzt kann sich über die Internetseite der Bundesopiumstelle Betäubungsmittelrezepte ausstellen lassen. Das einzige, was sie gegen die Schmerzen geben könne, sei eine Spritze mit Kortison und dem mittelstarken Schmerzmittel Piroxicam in den Gesäßmuskel. Bevor sie ging, händigte sie mir noch eine Ampulle Morphin, die sie in ihrem Notfallkoffer fand, aus und rezeptierte meiner Tante das mittelstarke Schmerzmittel Novaminsulfon. Damit behalfen wir uns irgendwie bis zum kommenden Montagmorgen, als der Hausarzt wieder Sprechstunde hatte.
Ich bin mir sicher, dass meine Tante kein Einzelfall ist und dass im Jahre 2008 in Deutschland immer noch tausende unheilbar kranke Patienten ihre letzten Lebenswochen mit unerträglichen Schmerzen verbringen, weil ihre Ärzte keine korrekte Schmerztherapie durchführen können oder wollen. Unter vielen Medizinern herrscht die abstruse Vorstellung, man stünde nach dem Ausstellen eines Opiatrezepts schon mit einem Bein im Gefängnis. Vielen scheint auch die Beschäftigung mit Sterbenden unangenehm zu sein, sie fühlen sich als Heiler und machen sich auf und davon, wenn es für diese Funktion zu spät ist. Die Bereitschaftsärztin blieb lieber in ihrer Praxis und behandelte Patienten mit Husten und Schnupfen, anstatt sich so schnell wie möglich auf den Weg zu machen, als ich am Telefon vom starken Tumorschmerz meiner Tante berichtete. Ich fühle mich wütend und hilflos, da unser Gesundheitssystem zwar eines der teuersten der Welt ist, in dem über 200 Krankenkassen mit Wellnessangeboten und Bonusheften Konkurrenzkämpfe um junge gesunde Versicherte austragen, aber auf der anderen Seite nicht einmal der bereits 1986 von der Weltgesundheitsorganisation WHO veröffentlichte Mindeststandard zur Schmerztherapie umgesetzt wird.
Autor: Dr. Heuteufel
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