W E R B U N G
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Von der Klinik in die Praxis


Nach beinahe drei Jahren in verschiedenen Kliniken wechselte ich vor einigen Wochen in eine Hausarztpraxis, um dort meine Weiterbildung zum Facharzt für Allgemeinmedizin abzuschließen. Endlich keine langen Dienste mehr, die Wochenenden frei, geregelte Arbeitszeiten. Endlich das tun, wofür ich Medizin studiert habe. Ich hatte Glück und habe eine Stelle gefunden, bei der es keine Rufbereitschaft gibt. Das geht nicht allen Kollegen so. Manche haben auch in der Praxis Mammutdienste bis zu drei Tagen am Stück rund um die Uhr, und das für einen Hungerlohn.

Vor dem ersten Tag hatte ich Respekt: Mein neuer Chef und seine Kollegin waren noch im Urlaub in Übersee, so dass ich den ersten Tag alleine überstehen musste. Erster Tag des neuen Quartals, erster Tag nach der Weihnachtspause von zwei Wochen, erster Arbeitstag im neuen Jahr und alles im Winter bei grassierender Grippewelle. Als ich morgens aufwachte war zudem alles tief verschneit, was in unserer Gegend nicht häufig vorkommt. Nachdem ich mein Auto von 20 cm Neuschnee befreit hatte, tuckerte ich die 30 Kilometer über schneeglatte Strassen zur Praxis. Dort angekommen standen schon einige Patienten vor verschlossener Tür Schlange. Als die Arzthelferinnen oder wie sie heute political correct heißen: die „medizinischen Fachangestellten“ dann kamen, musste ich in Windeseile in das mir unbekannte Praxiscomputerprogramm und die Vielzahl der Formulare eingewiesen werden. Um zwanzig nach acht rief ich den ersten Patienten auf. Inzwischen quoll das Wartezimmer vor Menschen über, es hatte sich eine Schlange entlang des Tresens gebildet bis hinaus auf die Strasse. Im Nachhinein sollte ich erfahren, dass an diesem meinem ersten Arbeitstag mehr als 160 Patienten Kontakt mit der Praxis hatten. Und das obwohl ich schon eine Reihe Patienten zur Vertretungspraxis geschickt hatte, da der Ansturm nicht mehr zu bewältigen war. So kämpfte ich mich durch den Tag: Acht Stunden Sprechstunde von 8 bis 18 Uhr, zwei Stunden Mittagspause.

Doch dann wurde es entspannter. In der Klinik wurde ich bei meinen letzten Stellen kaum eingearbeitet. Das geht vielen Kollegen so. Einige mussten sogar im Akuthaus auf der inneren Station bereits in der ersten Woche „Dienste“ machen, d.h. das Krankenhaus am Wochenende oder in der Nacht alleine betreuen. Bei anderen fuhr der Praxischef kurze Zeit später für einige Wochen in den Urlaub oder war kaum anwesend. Umso mehr hat es mich gefreut, dass ich die nächsten zwei Tage bei meinem Chef erst einmal dabeisitzen und zugucken durfte, während er mir vieles von Dokumentation bis Diagnostik und Behandlung erklärte. Auch die Hausbesuche machte ich mit ihm zusammen, wurde vorgestellt und durfte zusehen und unterstützen. Selbst zum Essen wurde ich eingeladen, die ersten Tage im Restaurant, dann bei ihm zu Hause. Die Atmosphäre ist viel angenehmer, keine steilen Hierarchien wie im Krankenhaus, keine Krankenhausverwaltungen, die einem das Leben schwer machen und Unwichtiges für wichtig halten. Fragen konnte ich jederzeit stellen und bekam auch fundierte Antworten, Hinweise auf Leitlinien oder Studien. Nicht umsonst hatte ich mir einen Vorreiter einer guten Facharztweiterbildung als Chef ausgesucht. Dass eine gute Weiterbildung eher die Ausnahme ist, bestätigen die Erfahrungsberichte vieler Kollegen.

Das Krankheitsspektrum in der Allgemeinmedizin ist enorm und gerade deshalb so interessant. Hier kommt alles in die Praxis: Von Patienten mit Nagelumlauf über welche mit Clusterkopfschmerzen, Hautausschlägen, Erektionsstörungen, Rücken- und Gelenkschmerzen, Luftnot, Herzrhythmusstörungen, Haarausfall, Überlaufblase, Depressionen bis hin zum grippalen Infekt mit Husten und Schnupfen. Die Aufgabe der Fachärzte für Allgemeinmedizin ist die Primärversorgung, also der Erstkontakt mit dem Patienten. Wir sollen entscheiden, wer behandelt werden muss, wen wir selbst behandelt können und wen wir zum Spezialisten für bestimmte Körperbereiche weiterschicken oder ins Krankenhaus einweisen, um einen gefährlichen Verlauf abzuwenden. Die Arbeit ist komplett unterschiedlich von der Arbeit als Krankenhausarzt und geht über das Fachgebiet der Inneren Medizin deutlich hinaus. Daher kann ich es nicht verstehen, dass der Bund der Internisten behauptet, Internisten, die ja meist ausschließlich Ihre Facharztweiterbildung im Krankenhaus und in einem Fach machen, seien besser als Hausärzte geeignet als Fachärzte für Allgemeinmedizin. Diese Behauptung ist wohl eher politisch motiviert als inhaltlich begründet.

Doch bekomme ich ebenso die Schattenseiten mit: Mein Chef als Praxisinhaber erstickt in Verwaltungsarbeit, muss immer neue Vorschriften kennen und einhalten, Abrechnungen ohne Ende, Arbeit am Wochenende und im Urlaub und zum Teil bis tief in die Nacht. Auch nach 30 Jahren Praxistätigkeit habe er seine Praxis noch nicht abbezahlt. Und er hat die guten Zeiten erlebt, in denen Ärzte noch reichlich verdienten und der Immobilienwert mit den Jahren stieg. Auch hat seine Frau lange Zeit in der Praxis mitgearbeitet. Heute gehen viele Praxen in Insolvenz und der Immobilienpreis sinkt, die Budgets sind gedeckelt und Regressforderungen der Kassenärztlichen Vereinigung keine Seltenheit. Die Zukunft des Gesundheitssystems ist ungewiss. Ferner sind die Partner der Ärzte von heute meist selbst berufstätig und aus nachvollziehbaren Gründen nicht mehr bereit, zusätzlich in der Praxis mitzuarbeiten.

Die Tendenz der Bundespolitik geht eher in Richtung von Gesundheitszentren, Einzelpraxen sind wohl nicht mehr erwünscht. Das bringt für uns junge Ärzte das Problem der fehlenden Perspektive mit sich. Für die nächsten zwei Jahre habe ich ein festes Anstellungsverhältnis mit geregeltem Gehalt. Aber was kommt danach? Eine Praxisübernahme ist wirtschaftlich viel zu unsicher. Außerdem bin ich, wie viele Kollegen ebensowenig, nicht bereit, diese immense Arbeit für ein Gehalt von 2000-3000 Euro netto in eine Praxis hineinzustecken und Schulden bei der Bank zu machen, die ich die nächsten 30-40 Jahre zurückzahlen muss, wenn das überhaupt reicht. Die Alternative wäre in ein Medizinisches Versorgungszentrum zu gehen, wie das offensichtlich vom Bundesgesundheitsministerium gewünscht wird. Doch eine Abhängigkeit von Konzernen wie Rhön, Sana, Asklepios, Helios und wie sie alle heißen, ist auch keine Lösung. Das habe ich als Krankenhausarzt schon erlebt. Die durch die Privatisierung entstandenen Krankenhausfabriken, die auf Gewinnmaximierung ausgelegt sind, binden auch die Medizinischen Versorgungszentren und die dort beschäftigten Ärzte mit Knebelverträgen. Dabei geht die Ethik und die Therapiefreiheit flöten zu Gunsten des Gewinns von einigen Aktionären, die überall in der Welt ihre Rendite sehen wollen.

Da momentan davon ausgegangen wird, dass die Ärzte in Weiterbildung zum Facharzt für Allgemeinmedizin nach der Facharztprüfung auch als Hausarzt arbeiten, wird es hier ein böses Erwachen geben. Denn nur wenige angehende Hausärzte wollen später als solche tätig werden. Bei unseren neu eingerichteten Weiterbildungstreffen, die gerade bundesweit am Entstehen sind, kommt immer wieder die Frage auf, was man denn noch machen könne, außer in einer Praxis als Inhaber zu arbeiten oder sich in einem Medizinischen Versorgungszentrum anstellen zu lassen. Beides wird derzeit als nicht erstrebenswert empfunden. Einige Kollegen wollen lieber in Teilzeittätigkeit als Arzt arbeiten, um sich nebenbei einer anderen Aufgabe widmen zu können und genug Zeit für die Familie zu haben. So hat ein Kollege ein Geschäft mit einem Wellnessangebot eröffnet, das zukünftig seine Haupteinnahmequelle sein dürfte. Er absolviert schon jetzt seine Weiterbildung in Teilzeit, um sein eigenes Unternehmen aufzubauen. Lediglich Arztkinder, die die Praxis von den Eltern übernehmen können, sind eher geneigt, in die Fußstapfen der Eltern zu treten und den Beruf des Hausarztes auch weiterhin auszuüben. Die Möglichkeit als angestellter Arzt unabhängig von Großkonzernen in Teil- oder Vollzeit zu arbeiten gibt es derzeit noch kaum. Dies wäre aber eine für viele attraktive Möglichkeit, sich mehr auf die ärztliche Tätigkeit als auf die Verwaltung zu konzentrieren, ohne das immense unternehmerische Risiko einzugehen.

Wie kann der Beruf des Hausarztes jungen Ärzten wieder schmackhaft gemacht werden? Ein wichtiger Punkt wäre, eine gut strukturierte Weiterbildung bei einem Grundgehalt anzubieten, das den Krankenhaustarifen entspricht. Zur Zeit beträgt die Bezahlung als Arzt in Weiterbildung während der Praxisphase etwa die Hälfte davon, was bei einem Alleinverdiener mit Familie etwa den Bezügen eines Hartz-IV-Empfängers entspricht. Das bedeutet eine Halbierung der Einnahmen nach drei Jahren Berufserfahrung von etwa 4000 auf 2000 Euro brutto. Es versteht sich von selbst, dass Ärztekammerbeiträge, arztspezifische Versicherungen sowie Fort- und Weiterbildungsveranstaltungen davon ebenfalls bezahlt werden müssen. Und das ist auch noch einmal eine größere Summe. Dass diese Finanzierungslücke junge Ärzte abschreckt verwundert nicht. Das neue „Gesetz zur Weiterentwicklung der Organisationsstrukturen in der gesetzlichen Krankenversicherung“ spricht im §4a schwammig von einer "angemessenen Vergütung in allen Weiterbildungseinrichtungen" und eine Erhöhung der Förderung in Gebieten mit Unterversorung. Doch die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV), die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) und die Spitzenverbände der Krankenkassen zögern selbst die Umsetzung hinaus. Der 1. Vorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Andreas Köhler, hat bereits geäußert, diese Erhöhung der Förderung und damit der Bezahlung der angehenden Hausärzte habe keine Priorität. Die Umsetzung des Einheitlichen Bewertunsmaßstabs 2009 (EBM 2009) binde zu viele Kräfte. Eine Erhöhung der Förderung Allgemeinmedizin ist jedoch essentiell, um den Nachwuchs für die Primärversorgung bei guter Qualität sicherzustellen, auch außerhalb von unterversorgten Gebieten, wie in den Städten. Knebelverträge, die schon angehende Studenten auf eine spätere Hausarzttätigkeit festlegen wollen oder Medizinstudenten oder Ärzte in der Weiterbildung für eine spätere Tätigkeit vertraglich binden, sind nicht nur rechtlich äußerst fragwürdig. Sie würden in der jetzigen Situation das genaue Gegenteil erreichen und eine abschreckende Wirkung haben, da niemand weiß, wie sich das Gesundheitssystem und die eigenen Interessen im Beruf langfristig entwickeln werden. Ein Versuch der Kassenärztlichen Vereinigung in Berlin, angehende Hausärzte zur Zurückzahlung der Fördergelder zu zwingen, wenn sie auch nur einen Monat im Laufe des weiteren Lebens im Ausland arbeiten, ist vor einiger Zeit durch die Aktivisten der Weiterbildung Allgemeinmedizin Berlin (WABe) zu Fall gebracht worden.

Ferner ist es dringend notwendig, den jungen Kollegen eine Perspektive als Fachärzte für Allgemeinmedizin zu bieten. Hier wären Großkonzern unabhängige Angestelltenverhältnisse in Teilzeit und Vollzeit ohne unternehmerisches Risiko eine gute Möglichkeit, zum Beispiel im Rahmen von Praxisfilialen. Damit würde der Tatsache Rechnung getragen, dass die Partner meist ebenfalls berufstätig sind und das Bedürfnis nach ausreichend Zeit für die Familie in der heute jungen Ärztegeneration groß ist. Desweiteren müsste das Berufsbild des Allgemeinarztes klar im internationalen Kontext definiert werden, damit nicht der Eindruck entsteht, die immer weiter spezialisierten Ärzte würden durch ihre immer größer werdende Anzahl den Fachärzten für Allgemeinmedizin das Wasser abgraben und deren Aufgaben mehr und mehr übernehmen bis der Hausarzt überflüssig geworden sei. Ein anderer Punkt ist die Länge des Patientenkontaktes. In Schweden hat ein Allgemeinmediziner 15-30 Minuten Zeit pro Patient, bei einem Patientenkontakt von 12 Patienten pro Tag. Der Beruf des Hausarztes würde auch in Deutschland attraktiver, wenn wir von der Wenige-Minuten-Medizin wieder zu mehr Zeit für den Patienten kommen würden. Durch eine Abkehr von der Fliesbandmedizin würde auf der einen Seite die Freude an der Arbeit erhöht und auf der anderen Seite die Qualität der ärztlichen Arbeit steigen. Es ist kein Geheimnis, sondern gemeinhin bekannt, dass 80-90% der Diagnosen durch die Aufnahme der Patientengeschichte, der sogenannten Anamnese, gestellt werden können und nicht durch Apparatemedizin, die viel Geld kostet. Dafür wird ein größeres Zeitkontigent als einige Minuten benötigt, wobei 15-30 Minuten durchaus realistisch sind. Hier müsste die Politik des Bundesgesundheitsministeriums steuernd eingreifen. Dabei besteht langfristig, das heißt über eine Legislaturperiode hinaus, ein enormes Einsparungspotential, da unnütze und teure Spezialistenuntersuchungen minimiert werden könnten. Es sind Leute mit Weitsicht vonnöten, deren Ethik über das „Ich-möchte-wieder-gewählt-werden“ hinaus geht und die an die Zukunft von unserem Gesundheitssystem über die nächsten Jahrzehnte denken. Sie müssten ein gutes Primärarztsystem mit Allgemeinmedizinern installieren, die auch eine Gate-Keeper-Funktion, also eine Filterfunktion, wer zum Spezialisten muß, erfüllen und gute Allgemeinmedizin zu vernüftigem Honorar anbieten können. Dann wird der Beruf des Hausarztes langfristig wieder interessant und nebenbei können größere Summen Geldes eingespart werden.


Autor: Der Neue Hippokrates