Vom 20. bis zum 24. Januar dieses Jahres fand ein Austauschprogramm für angehende Fachärzte für Allgemeinmedizin in den Niederlanden statt. 37 Ärzte in Weiterbildung aus 19 Nationen verbrachten vier Tage an verschiedenen Stationen in Holland, um einen Eindruck von der Weiterbildung der „huisarts in opleiding“, (...) also der angehenden Hausärzte zu gewinnen und den internationalen Austausch zu fördern. In den meisten Ländern Europas erfüllt der Hausarzt eine Filterfunktion, behandelt die Patienten sofern nötig selbst und schickt sie nur in Ausnahmefällen zum Spezialisten für bestimmte Körperbereiche weiter. Das führt zur Kostensenkung, da die teure und für den Patienten belastende Apparatemedizin nur angewendet wird, wenn es unbedingt notwendig ist. Gesundheitssysteme, die das begriffen haben, haben Weiterbildungsprogramme für junge Ärzte installiert, um sie zu hochkompetenten Hausärzten als Erstversorger der Patienten weiterzubilden. Das Austauschprogramm in den Niederlanden zeigte, dass Deutschland hier von seiner Qualität und Struktur nachhinkt, nur in Österreich ist die Weiterbildung noch schlechter. Der nachfolgende Erfahrungsbericht kann helfen zu verstehen, wie wir unser Gesundheitssystem neu strukturieren müssen, um es nach mehr als 50 Jahren von Reformen zu stabilisieren und die beständigen Kostensteigerungen zu stoppen.
Gleich zu Beginn unseres Aufenthaltes tauchten wir ein in das Leben der niederländischen Kollegen, die ebenfalls wie wir in der Weiterbildung zum Facharzt für Allgemeinmedizin, also zum Hausarzt sind. Jedem ausländischen Arzt wurde ein niederländischer Kollege als „buddy“ zur Seite gestellt. Bei ihm oder ihr wohnten wir jeweils die ersten zwei Tage, verbrachten zusammen einen Tag in der Praxis und gingen einen weiteren Tag in die Universität, wo wir an Diskussionsrunden und Workshops teilnahmen. Es schlossen sich zwei Tage in Utrecht an. Dort kamen die verschiedenen Gruppen aus allen Teilen der Niederlande zusammen. Wir besuchten gemeinsam den Kongress „Hausärzte in Bewegung“ der LOVAH, in der die angehenden Hausärzte seit 1980 organisiert sind. Eingerahmt wurde der Aufenthalt von einem sozialen Programm mit Krachtenfahrt oder Dombesteigung und einer Abschlussparty.
Das Weiterbildungsprogramm zum Hausarzt in den Niederlanden unterscheidet sich erheblich von den Regularien in Deutschland. Während alle nicht-deutschsprachigen Länder über ein exzellentes Weiterbildungssystem verfügen, mussten wir drei deutschen Teilnehmer sagen, dass es in Deutschland überhaupt kein strukturiertes Weiterbildungsprogramm zum Facharzt für Allgemeinmedizin gibt, sondern lediglich 17 verschiedene Weiterbildungsordnungen, die uns das Leben eher erschweren als erleichtern. In Deutschland ist daher zur Zeit eine Weiterbildung zum Hausarzt möglich, indem man drei Jahre in der Inneren Medizin arbeitet und anschließend zwei Jahre bei einem Hausarzt. Weitere Fächer müssen nicht belegt werden, ein Arbeiten in der Frauenheilkunde, Kinderheilkunde, Nervenheilkunde, Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, Orthopädie usw. ist in den meisten Fällen aufgrund von verschiedenen systemimmanenten Mängeln kaum möglich. Die Weiterbildung muss in Deutschland komplett selbst organisiert werden, eine Rotation durch verschiedene Fächer existiert nicht, jedes Mal sind neue Vertragsverhandlungen notwendig, jedes Mal Probezeit mit dem bekannten Rechteverlust bis zu 50% der fünfjährigen Weiterbildungszeit. Weiterbildungskurse sind auf ein Minimum reduziert worden, Weiterbildungstage oder eine Anbindung an die Universitäten gibt es nicht. Die Diskussion mit internationalen Kollegen zeigte, dass das in diesem Ausmaß ein auf Deutschland und Österreich beschränktes Problem ist. Als ich erzählte, dass wir zum Beispiel verpflichtet sind, 500 mal Ultraschall des Bauchraums, 150 mal der Schilddrüse und 300 Duplexuntersuchungen der Gefäße nachzuweisen sowie eine ganze Reihe weiterer technischer Untersuchungen, ernteten wir durch die Bank weg ein Kopfschütteln der internationalen Kollegen. „Wozu das denn?“ oder „was hat das denn für einen Sinn?“ war eine häufige Reaktion. In keinem anderen Land werden solche Untersuchungen von den angehenden Hausärzten verlangt. Hier führen sie zu Gefälligkeitszeugnissen und damit zur Erpressbarkeit der jungen Ärzte gegenüber Chefs und der Ärztekammer.
Auch das Ansehen der Hausärzte ist in beinahe allen anderen europäischen Ländern deutlich besser. Ob in Schweden, Großbritannien, Irland, Spanien, Italien, Tschechien, Belgien oder in den Niederlanden, überall wurde erkannt, dass es sinnvoll ist, wenn der Hausarzt der erste Ansprechpartner eines Patienten ist. Gut weitergebildete Hausärzte behandeln die Patienten möglichst lange selbst und überweisen nur wenn notwendig zu den Spezialisten. Damit werden immense Summen Geldes eingespart, da unnötige technische Untersuchungen entfallen. Aus dieser Erkenntnis heraus wurde die Konsequenz gezogen, exzellente Spezialisierungsprogramme für den Facharzt für Allgemeinmedizin anzubieten, damit dieser in der Lage ist, seine Filterfunktion bei möglichst hoher Kompetenz gut auszuüben. In keinem anderen Land gibt es zudem Spezialisten außerhalb der Krankenhäuser zu denen man ohne Überweisung vom Hausarzt selbst gehen kann. Dieses doppelte System in Deutschland trifft auf allgemeines Unverständnis im internationalen Kollegenkreis. Der Patient müsse dann ja selber wissen, zu welchem Facharzt er gehen müsse. In diesem Zusammenhang erzählte ein deutscher Kollege von seiner Zeit in einer orthopädischen Praxis. Dort seien Patienten mit der Virusinfektion Gürtelrose am Rücken genauso behandelt worden wie andere Patienten mit normalen Rückenschmerzen, geröntgt und dann fehltherapiert worden, obwohl hier der Internist oder der Hautarzt der richtige Ansprechpartner gewesen wäre. Ein Allgemeinmediziner hätte hier entweder selbst behandelt oder bei dem seltenen komplizierten Verlauf zum Dermatologen überwiesen. Geht ein Patient zum falschen Spezialisten, weil er naturgemäß über die Möglichkeiten und Zusammenhänge nicht Bescheid weiß, steigt die Gefahr, eine falsche Behandlung zu erhalten. Das kostet die Solidargemeinschaft viel Geld. Dem Patienten hilft die Behandlung im günstigsten Fall nicht, im schlimmeren schadet sie gar. Spezialisten sind für fachübergreifende Zusammenhänge nicht weitergebildet. Dafür gibt es ja, wie der Name sagt, den Facharzt für Allgemeinmedizin. „Was macht Ihr denn dann als Hausärzte überhaupt noch?“, fragte ein Kollege in einer Diskussionsrunde, „wenn Euch die Spezialisten die Arbeit wegnehmen?“ und drückte sein Bedauern über unsere speziell deutsche Situation aus. Es sei dann nicht verwunderlich, dass das deutsche Gesundheitssystem das teuerste der Welt sei bei nur mäßigen Ergebnissen.
Der niederländische Hausarzt untersucht und behandelt alles. Frauenheilkundliche Untersuchungen mit vaginalen Abstrichen und Einbringen von Verhütungsspiralen gehören ebenso selbstverständlich dazu, wie die Behandlung von Kindern, die Wundversorgung, die Notfallmedizin oder die Entfernung von Hautgewächsen, die anschließend in der Pathologie untersucht werden. Angehende Hausärzte arbeiten direkt nach Abschluss des Medizinstudiums zum Beginn des dreijährigen, strukturierten Weiterbildungsprogramms für ein Jahr in einer Hausarztpraxis, ein weiteres folgt im dritten Jahr. Dazwischen ist eine Phase in der Notaufnahme, in der Psychiatrie und der Behandlung chronischer Krankheiten eingestreut.
In der Praxis behandeln und beraten die Ärzte in Weiterbildung die Patienten in einem Zeittakt von 15-20 Minuten pro Patient selbständig mit dem Ziel, die Arbeit später einmal in 10 Minuten bewältigen zu können. Pro Stunde sind meist zehn Minuten Pause eingeplant. Ansprechpartner sind bei Fragen praktisch immer verfügbar, in Ausnahmesituationen auch mal nur telefonisch. Die jungen Ärzte haben das Anrecht auf eine Stunde Weiterbildungsgespräch pro Tag, Fragen können in den allermeisten Fällen immer gestellt werden. Einmal pro Woche findet ein Weiterbildungstag an der Universität, an die man angebunden ist, statt. Es existieren regelmäßige Treffen der angehenden Hausärzte, die zur Arbeitszeit zählen. Für das Weiterbildungsprogramm gibt es einen Vertrag, der für die gesamte Zeit von drei Jahren bis zur Facharztprüfung gilt. Das Gehalt wird direkt vom Ministerium bezahlt und beträgt nach Auskunft einer holländischen Ärztin in Weiterbildung etwa 2350 Euro netto. Die Weiterbilder müssen ein Jahr lang jede Woche einen Kurs besuchen und den selben Test ablegen wie die Ärzte in Weiterbildung, um als Trainer arbeiten zu dürfen. Es gibt regelmäßige Videoaufzeichnungen von Arzt-Patienten-Gesprächen, um später zu analysieren, wie gut der angehende Hausarzt oder Trainer das Gespräch geführt hat. Ein Kommunikationstraining ist selbstverständlicher Teil des dreijährigen Trainings, um den Austausch zwischen Arzt und Patienten zu professionalisieren. Eine Anbindung an die Institute für Allgemeinmedizin der Universitäten gehört ebenso dazu wie eine Evaluation der Weiterbildung und ein Austausch der Arztgenerationen untereinander. Erfahrungen werden also weitergegeben. Verhältnisse von denen wir Deutschen nur träumen können.
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Auch die fertigen Hausärzte haben es in den meisten Ländern besser als in Deutschland. Nirgendwo gibt es so viel Bürokratie und Überregulation wie in Deutschland. So beschrieb ein belgischer Kollege, dass die Patienten in seinem Land in den Hausarztpraxen bar bezahlten, eine Rechnung erhielten und der Patient diese dann beim Staat einreicht, der mit der Versicherung abrechnet. Es gäbe keine gedeckelten Budgets, keine Rezeptgebühren, Patienten müssten keine 10-Euro bezahlten, wenn sie das erste Mal im Quartal zum Arzt gehen. Teure Medikamente müssten lediglich mit einem Formblatt begründet werden. Kontrollen, Rückzahlungen oder Strafen gebe es praktisch nicht. Für soziale Härtefälle gebe es eine Möglichkeit, einen Antrag auszufüllen, mit dem der Patient erklärt, er sei in einer finanziell schwierigen Situation und dies mit seiner Unterschrift bestätigt. Überprüft werde dies nicht. In diesen Fällen rechne der Arzt direkt mit dem Staat ab. Auch in Großbritannien, Schweden, Irland und weiteren europäischen Staaten ist das Abrechnungssystem vereinfacht. Hier kann Deutschland noch viel lernen. Der Blick über unsere Grenzen hinweg und ein internationaler Austausch geben uns viele Ansatzpunkte, wie sich Deutschland aus der Misère der Dauerreformen im Gesundheitswesen befreien kann. Angebote zur Zusammenarbeit wurden bereits mehrfach ausgesprochen.