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Reisegespräche – Armes Deutschland


Politisieren im Zug, mein Nachbar und ich diskutieren über die Streiks in Frankreich, die mich beeindrucken, da die Franzosen die Ölraffinerien und Atomkraftwerke bestreiken und die Strassen blockieren. Zeitweise gibt es kein Benzin, und es besteht die Angst vor einem Stromausfall. Und was machen wir (...) Deutschen? Unterschriftenlisten als Protestaktion sammeln. Da werden unsere Politiker aber Angst bekommen! Haben wir nur Schnarchnasen in Deutschland? Der Unterschied sei, sagt mein Sitznachbar im ICE, dass wir in Deutschland ein Gruppenstreikrecht und in Frankreich ein Individualstreikrecht haben. Der Einzelne werde in Deutschland - überspitzt ausgedrückt – als Störenfried, fast als Terrorist gesehen. Nur die Gewerkschaften und Vereinigungen würden ernst genommen. Da frage ich mich, ob es sich lohnt, eine Initiative für ein Individualstreikrecht in Deutschland zu starten. Google findet unter „Individualstreikrecht“ bezeichnenderweise nur einen Treffer.

In meiner privaten und spartanischen Pension mit Zimmer ohne Bad und ohne Waschbecken (Motto: Die preiswerte Alternative) komme ich mit dem Eigentümer ins Gespräch über die französischen Streiks. Gestreikt wird ja in Frankreich von jung und alt, weil der Vorruhestand von 60 auf 62 Jahre angehoben werden soll. „Als Kohl in den 90iger Jahren das Rentenalter von 60 auf 65 Jahre anhob ging niemand auf die Strasse“, sagt er und spricht über die Zeit, als es schwieriger wurde in Frührente zu gehen. Er habe 41 Jahre in die Rentenkasse einbezahlt und bekomme wegen der fünf Jahre, die er vorzeitig in Rente ging ein Drittel weniger Rente. Seine Wut ist spürbar.

Im Taxi, auf das ich wegen der auswärtigen Lage meiner Unterkunft angewiesen bin, frage ich den Fahrer nach seinem Stundenlohn und seinen Arbeitsbedingungen. Seine Gesichtsfarbe verändert sich vom zuvor aschfahlen Grau in einen deutlich rot schimmernden Ton: „Vier Euro bekommen wir pro Stunde! Das ist Sklaverei!“ Die Schichten seien 12 Stunden lang, die Pause eine halbe Stunde. Manchmal müsse man dann auch danach noch eine lange Fahrt von bis zu drei Stunden übernehmen. Ähnliche Gespräche führe ich mit weiteren meiner Fahrer in den darauffolgenden Tagen.

Armes Deutschland! Überall brodelt es. Bei uns Ärzten ist es ja nicht anders. Ein wenig habe ich das Gefühl, dass eine Revolte wie in den 1968igern ansteht, um verkrustete und korrupte Strukturen, die sich eingeschlichen haben aufzubrechen. Die brutale Niederschlagung der Proteste gegen Stuttgart 21 waren ein Symbol, dass sich die Bevölkerung nicht mehr alles gefallen lassen möchte. Es gibt weniger Politiker, die sich trauen das klar auszusprechen, wie Heiner Geißler, der eine neue Wirtschaftsordnung fordert: Hier geht es zum Video

Wann endlich haben wir in Deutschland den Mut, Aktionen wie in Frankreich zu starten? Wann endlich beweisen wir Rückgrat, um für unsere Ideale gewaltfrei aber öffentlichkeitswirksam einzustehen? Baustellen gibt es genug: Die gravierenden Mängel in unserem Bildungssystem vom Kindergarten bis zur Universität. Das ökonomisierte Gesundheitssystem, das mehr den Konzernen und Krankenhausgruppen als den Patienten hilft, unsere korrupten Politiker, die mehr Industrie- als Volksvertreter sind, wie Renate Hartwig (www.patient-informiert-sich.de) dies ausdrückt. Eines ist klar: So kann es nicht weitergehen. Jeder sollte sich an seine eigene Nase fassen und überlegen, wie er oder sie etwas tun kann. Ein Mittel ist es sicherlich, sich mit anderen Gleichgesinnten zusammenzuschließen und sich gemeinsam einzusetzen. Denn: In Deutschland werden vor allem Gruppierungen ernst genommen, wie ich gelernt habe.


Autor: Christian Haffner