Ein Muss für den mündigen Bürger
„Krank in Deutschland – Ein Tatsachenreport“ hat Renate Hartwig, Kämpferin gegen den Ausverkauf des Gesundheitswesens und für eine gerechte Gesundheitsversorgung ihr neues Buch genannt. Nach „Der verkaufte Patient“ erschien im Oktober 2010 ein weiteres Werk von ihr, das die schleichende Ökonomisierung des deutschen Gesundheitssystems anhand vieler Beispiele aufzeigt. Und eines wird mir klar: Vieles ist uns noch gar nicht bewusst, was es hier gerade an gravierenden Veränderungen gibt oder bereits gegeben hat, selbst wenn man in einem medizinischen Beruf arbeitet.
Frau Hartwig schreibt von Manuela, die an der wenig bekannten chronische Krankheit Akne inversa mit wiederkehrenden Abszessen leidet, der der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) eine adäquate Wundversorgung nicht bezahlt. Wiederholte Operationen werden hingegen erstattet, die eine zunehmende Qual für die Patientin sind. Ein beständiger Kampf um eine Kostenübernahme hat mit der Krankenkasse begonnen. Übrigens hat Manuela unter Pseudonym auch mehrfach schon auf dieser Internetzeitung veröffentlicht. Geben Sie in die Suchleiste „Akne inversa“ ein und sie finden ihre Beiträge.
Ein Arzt, der mit seiner besonderen und hochspezialisierten Art der Kontaktlinsenanpassung nun plötzlich mit einem Honorar von um die 20 Euro pro Patient pro Quartal auskommen soll, kann damit nicht mehr überleben. Folge: Die Patienten müssen sich in vielen Fällen einer viel teureren Augenoperation unterziehen, die sonst vermeidbar gewesen wäre. Gespräche mit der Kassenärztlichen Vereinigungen führen nicht weiter, der MDK bekommt als Prüfhonorar mehr Geld als der Arzt für seine Arbeit. Ein absurdes System, bei dem jeder der Beteiligten die Schuld anderen in die Schuhe schiebt, aber niemand die Verantwortung für den Patienten übernimmt. Die Krankenkassenbeiträge von über 15 Prozent versickern in sinnentfremdeten Kontroll- und Verwaltungsapparaten.
Es geht um Krankenkassen, die Ärzte nötigen, ihre Diagnosen so anzupassen, dass möglichst viel Geld hereinkommt. Wenn aus einer einfachen Lungenentzündung „AIDS“ gemacht wird, nur weil eine Praxis mehrere AIDS-Fälle mit Lungenentzündung hatte, so ist das Betrug. Wenn den Patienten aus reinen Kostengründen Untersuchungen vorenthalten werden, so ist das unterlassene Hilfeleistung oder zumindest mit unserem ärztlichen Ethos nicht vereinbar. Krankenkassenmitarbeiter, die sich anmaßen, die Patientenversorgung als Nicht-Ärzte zu beurteilen, wie den Mann ohne Ohren, sind eine Schande für unser Gesundheitssystem. Diese Behinderung ist Folge des Schmerzmittels „Contergan“, das seine Mutter während der Schwangerschaft in guten Glauben eingenommen hatte. Nun verweigert die Krankenkasse ihm Kontaktlinsen, eine normale Brille ist wegen fehlender Ohren nicht möglich. Stattdessen wird eine etwas günstigere Brille mit Gummiband für den Hinterkopf empfohlen, die Allergien der Kopfhaut und Haarausfall nach sich zog. Ärzte hatten einhellig Kontaktlinsen empfohlen. Die Kasse bleibt weiter stur und beharrt auf ihrem Standard.
Eine Mutter von drei behinderten Kindern darf plötzlich nicht mehr die Windeln im Sanitätshaus kaufen, ohne Vorwarnung. Jetzt müssen diese ausschließlich über eine Firma geliefert werden, die in Berlin sitzt und mit der die Kasse ein Abkommen hat. Doch sie liefert erst drei Wochen später Windeln schlechtester Qualität. Da gleich ein gesamter Monatsvorrat ankommt, wird eine komplette Palette auf dem Gehweg vor der kleinen Wohnung abgeladen, in die die Windelmassen nicht hineinpassen. Kostenersparnis zu Lasten der Kranken und Schwachen.
Ebenso zeigt Hartwig die Verstrickungen zwischen Politik, Wissenschaft und Wirtschaft auf, wie die Interessen hier, ähnlich wie in den USA, verschwimmen und wirtschaftliche Interessen nach und nach die Oberhand gewinnen.
Mit „Krank in Deutschland“ ist es Renate Hartwig erneut gelungen aufzurütteln und dem mündigen Bürger Informationen an die Hand zu geben zu zeigen, wie schlecht es um unser Gesundheitssystem schon steht und dass offensichtlich ein System hinter den Veränderungen steckt. Viele von uns wollen das noch nicht wahrhaben. Noch ist Zeit, sich dagegen zur Wehr zu setzen und einen Gegenimpuls zu setzen. Hier sind wir als Bürger alle aufgerufen.
Renate Hartwig "Krank in Deutschland - ein Tatsachenreport" erschienen bei Pattloch, Preis 18€, Prädikat: wertvoll
Autor: Der Neue Hippokrates
|