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Unliebsame Wahrheiten
Der Begriff „Reform“ ist inzwischen ein Unwort geworden. Es herrscht der Eindruck vor, dass es jedes Mal nur schlimmer wird. Die Krankenkassenbeiträge steigen über die Jahre, es gibt immer wieder neue Zuzahlungen von der Einführung der 10-Euro-Entrittsgebühr jedes Quartal bis zu den Rezeptgebühren und der Finanzierung über einen Gesundheitsfonds. Eigentlich müsste es mehr Geld im Gesundheitssystem geben.
Und gleichzeitig stehen die Ärzte stehen immer noch im Ruf viel Geld zu verdienen und auf einem hohen Niveau zu jammern. Neulich im Notdienst war ich in der Notdienstzentrale zusammen mit einem Pulmonologen und einer Psychiaterin, die schon fortgeschrittenen Alters waren. Ich kam mit beiden ins Gespräch und fragte sie, ob sie die Notdienste machen, weil sie Lust darauf haben. „So etwas macht man nicht, weil man Lust hat, sondern weil man Geld braucht“, kam die prompte Antwort. Wie kann das sein, dass etablierte spezialisierte Ärzte mit eigener Praxis zusätzlich zu ihrer harten Arbeitswoche Notdienste am Sonntag brauchen, um sich über Wasser zu halten? Daran schuld sei das Abrechnungssystem, dass alles pauschaliert sei. Egal wie oft der Patient komme, es gebe immer nur die Pauschale pro Quartal.
Die Krankenkassen sprechen immer noch von einer Überversorgung, also von einem Zuviel an Ärzten. Das mag auch stimmen, wenn man hier alle Fachgruppen über einen Leisten bricht und die Besonderheiten des deutschen Gesundheitssystems nicht berücksichtigt.
Doppelte Spezialistenschiene
Wir haben eine doppelte Spezialistenschiene, was heißt, dass wir Spezialisten für alles sowohl in den Krankenhäusern als auch in den Praxen haben. Beide machen sich Konkurrenz. Das ist in den allermeisten Ländern der Welt nicht so. Dort sortieren gut weitergebildete Generalisten, das heißt Fachärzte für Allgemeinmedizin, die Patienten erst einmal vor, bevor sie zu den Spezialisten in den Krankenhäusern gehen dürfen.
Die verbogene „freie Arztwahl“
Und wir haben die heilige Kuh der Deutschen, den Euphemismus der „freien Arztwahl“. Natürlich sollte eine Wahl der Ärzte im jeweiligen Fachgebiet frei sein. Doch wird hierunter in Deutschland meist verstanden, dass der Patient entscheiden soll, welcher Spezialist bei seinen Symptomen der richtige Ansprechpartner ist. An den Bespielen Schwindel, Müdigkeit, Kopfschmerzen wird schnell sichtbar, dass hier erst einmal ein Arzt mit Überblick über alle Fachgebiete notwendig ist. Sonst wird schnell ein Bedarf geschaffen, so dass Kardiologe, Neurologe, Hals-Nasen-Ohren-Arzt, Orthopäde und Radiologe ihre Schiene fahren und die Untersuchungen ihres Fachbereichs durchziehen und abrechnen. Jeder mit seinen fachspezifischen Scheuklappen, was enorme Kosten und einen verlängerten Leidensweg des Patienten nach sich zieht. Warum tut niemand was dagegen? Weil alle Fachgebiete davon profitieren.
Keine Bedarfsgerechte Weiterbildung
Und dann ein weiteres Tabu. In Deutschland darf jeder Arzt nach dem letzten Examen seine Spezialisierung („Weiterbildung“) zu einem Facharzt seiner Wahl machen. Das ist natürlich für den Einzelnen erst einmal angenehm, hat aber für das Gesundheitssystem verheerende Konsequenzen. Das ist in den meisten anderen Ländern nicht so, wo es Quoten für die jeweiligen Fachrichtungen gibt, die nach unterschiedlichen Methoden erfüllt werden. In Deutschland hingegen werden Ärzte zu Fachärzten weitergebildet, die hinterher ihren Bedarf oft erst schaffen. Berufsverbände und Fachgesellschaften setzen sich dann fachlich und berufspolitisch dafür ein, dass die eigene Mitglieder eine ausreichend große Bedeutung bekommt. Das ist die klassische Lobbyarbeit. Der umgekehrte Weg, einen Bedarf an Spezialisten und Generalisten zu erkennen und danach weiterzubilden, wäre der klügere, ist aber nicht populär.
Einschreibung beim Allgemeinmediziner
Werden zum Beispiel in den Niederlanden 2000-3000 Patienten bei einem Hausarzt eingeschrieben, der für sie eine Einschreibepauschale bekommt, egal ob sie ihn brauchen oder nicht, so muss der deutsche Arzt sie einmal pro Quartal in seine Praxis locken. Er muss alles abrechnen, was möglich ist von den unsäglichen Gesundheitsuntersuchungen, der fraglichen Krebsvorsorge für Männer, dem Hautkrebsscreening, impfen bis zum Anschlag und ihm Individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL) verkaufen, die er privat finanzieren muss. Ist er gut, und der Patient braucht ihn nicht, so macht er Verlust oder geht bankrott. Folgt er dem Patientenwillen nicht und verschreibt ein unnötiges Antibiotikum nicht, kann der Patient so lange von Arzt zu Arzt gehen, bis er einen findet, der ihm das verschreibt. Unterstützt dieses System eine gute Medizin? Ich finde nein.
Die Kassenärztlichen Vereinigungen
Die Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) haben einen irreführenden Namen, da sie die Kassenärzte nicht vertreten, sondern als Körperschaft des öffentlichen Rechts die Aufgabe haben, das Sozialgesetzbuch V wortgetreu umzusetzen. Dafür haften die Vorstände mit ihrem Privatvermögen. Die KVen haben den Sicherstellungsauftrag, dass es genug Ärzte für die ambulante Versorgung gibt und müssen die Gelder der Krankenkassen auf die unterschiedlichen Ärztegruppen verteilen. Sie gehen zum Staatsanwalt, wenn Abrechnungskriterien der Ärzte ihnen nicht stimmig erscheinen. Und zwar oft, ohne vorher mit den Kollegen zu sprechen. Dabei geht es um existenzvernichtende Summen von oft bis einige hundertausend Euro, Strafanzeigen wegen Betrugs usw. Dabei ist das System so intransparent, dass selbst eingefleischte und lang erfahrene Ärzte in Abrechnungsfallen tappen und eine Generalangst vor einem Regress vorherrscht. Die 17 Kassenärztlichen Vereinigungen der Länder (2 in Nordrhein-Westfalen) und die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) verschlingen Unsummen an Geld. Der Vorstandsvorsitzende der KBV war jüngst in die Kritik gekommen, weil er sich das Gehalt um 35% auf 350 000 Euro erhöht hatte und drei Vorstandsmitglieder zumindest in einer sehr dunkelgrau bis anthrazitfarbenen Zone Übergangsgelder von je fast 180 000 Euro eingeheimst hatten. Und das ist nur das, was öffentlich bekannt geworden ist. Unter Ärzten wird hier noch von mehr Mauscheleien berichtet. Es kann nur eine Konsequenz geben: Die Kassenärztlichen Vereinigungen gehören in dieser Form abgeschafft. Sie existieren seit 1933 und sind eine überflüssige Last des Gesundheitssystems.
Zu viele Krankenkassen
Im März 2012 gab es in Deutschland 145 gesetzliche Krankenkassen. Alle mit eigenen Vorständen, Mitarbeitern, Infrastrukturen, Werbung um Mitglieder zu bekommen. Auch die Krankenkassen sind Körperschaften des öffentlichen Rechts und müssen sich strikt nach dem Sozialgesetzbuch richten. Eine echte Konkurrenz im Sinne der Marktwirtschaft kann es daher nicht geben. Es wäre kostensenkend, wenn die Anzahl deutlich auf vielleicht 10-30 Krankenkassen reduziert werden würde. Und: Ob wir private Krankenkassen brauchen oder einfach alle gesetzlich versichert sind, das muss auch hinterfragt werden. Eine Bürgerversicherung hätte den Charme, dass jeder dort einzahlt, was gerecht und solidarisch wäre.
Autor: Empört-Euch
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