W E R B U N G
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Das Wesentliche aus dem Blick verloren


Sonntag, Dienstantritt zu einem 24-Stunden-Dienst. Gerade die Klinik betreten. „Ah, da ist ja der Doktor soundso“, schallt es aus dem Hintergrund, und mein Name fällt. „Den mache ich gleich einen Kopf kürzer!“ Es ist die Dame an der Rezeption. Eine Unstimmigkeit im Entlassungsschein zu ihren Unterlagen. Die Patientin ist doch nicht gestern nach Hause gegangen, sondern erst heute morgen. Riesendrama! Das Datum im Entlassungsschein und im Kurzarztbrief müssen geändert werden. Vor einigen Wochen gab es schon einmal eine Beschwerde aus dem Verwaltungstrakt unseres Hauses: Die für die Entlassungsscheine zuständige Dame ist zum Geschäftsführer gerannt und hat sich über mich beschwert, ich würde NIE die Entlassungsscheine unterschreiben und überhaupt meine Arbeit nicht gut machen. Das ging dann zum Chefarzt und Oberarzt an mich weiter, die über die Frau nur den Kopf schüttelten.


Ich habe Glück und menschliche Vorgesetzte, die mir den Rücken stärkten. Als ich danach in den Verwaltungstrakt ging, um ein klärendes Gespräch zu führen wurde ich gleich angefahren: Ja, ich würde ständig Fehler machen. Sie sollte mir die Unterlagen doch bitte zeigen, die fehlerhaft seien, entgegnete ich ihr. Ich bekam ein Formular vorgelegt, indem ich aus einer „7“ eine „8“ gemacht hatte, meine Unterschrift für diese Änderung daneben. Das ginge so nicht. Ich wollte weiteres sehen. Auch heute wieder hätte ich Fehler gemacht, nun ja, nicht direkt, aber die Kollegin, die ich vor zwei Monaten eingearbeitet habe, hätte ein Kreuzchen nicht gemacht auf dem Formular. Und, weil ich sie eingearbeitet hätte, sei das halt dann auch mein Fehler.


Das ist symptomatisch für unser derzeitiges Gesundheitssystem. Die Prioritäten werden aus dem Auge verloren und die Verwaltungen haben die Macht übernommen. Kreuzchen auf Formularen sind wichtiger geworden als eine gute Patientenversorgung. Da werden den Ärzten „Opt-Out-Regelungen“ aufgezwungen, also Regelungen, die besagen, dass man über das erlaubte Maß von 48 Stunden pro Woche im Durchschnitt arbeiten darf, während die Verwaltungsangestellten selbst um 8 Uhr kommen, um 16 Uhr gehen. Keine Nachtdienste, keine Wochenenddienste, kaum Überstunden für die Verwaltung. Da werden große Prozessschaubilder mit Pfeilen und Grafiken entworfen, die für jemanden, der die Realität nicht kennt, womöglich gut aussehen. Eine Schwester, die sich das Bild ansah brachte es auf den Punkt: „Wo ist denn der Patient?“ Ganz in der Ecke, praktisch vor lauter Prozessen und Vorschriften kaum sichtbar stand klein „Patient“.


Das Maß wurde verloren vor lauter Kontrollzwang und Fokussierung auf die Kosten. Betriebswirte sind Geschäftsführer und nicht mehr Juristen wie früher. Die Umgangsformen sind großenteils herablassend empfunden. Bei den Ärzten und der Pflege herrscht gleichzeitig der Eindruck vor, der ganze Verwaltungsaufwand ginge am Wesentlichen vorbei. Beim Umbau der Klinik wurden die Schwestern zum Beispiel um Rat gefragt. Sie machten Vorschläge: Duschbadewannen ohne hohen Rand, damit die Patienten besser hineinkämen, Hocker für die Bäder und so weiter. Als die Bauarbeiten abgeschlossen waren, war dann alles anders. Aus Kostengründen. Doch nicht nur in den Klinken läuft das so, auch der ambulante Sektor hat bekanntermaßen zu kämpfen. Hier sind es dann nicht die Krankenhausverwaltungen, sondern die Kassenärztlichen Vereinigungen, die in groteskem Maß und in inhaltlicher Absurdität von den Ärzten Dinge fordern, dass man sich wundert, wieso überhaupt noch jemand diesen Beruf ausübt.


Wo ist der Patient? Wo ist der Mensch? Mit Menschen hat die Verwaltung nur dann etwas zu tun, wenn sich die Patienten beschweren. Und was passiert dann? Dann wird die Beschwerde direkt an die Ärzte weitergereicht. Hauptsache die Unterschrift und das Kreuzchen auf den Formularen stimmen. Was mit Menschen zu tun hat, ist doch nicht Sache der Verwaltung. So sehen wir Ärzte das auch. Daher sollten unsere Entscheidungsträger begreifen: Es ist an der Zeit ist, dass Kliniken von Ärzten geleitet werden sollten, wobei die Verwaltung ihnen als untergeordnet bei der Organisation hilft. Wir haben uns die Verwaltungen einmal zur Entlastung unserer Tätigkeit ausgedacht. Das wäre der richtige Weg, um wieder zu einem Gesundheitswesen zu kommen, das eine Zukunft hat.


Autor: Dr. Dolittle