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Erfahrungsbericht eines Rollentauschs
Gerade habe ich aufgrund eines Rollentauschs erfahren müssen, wie sich Angehörige von Patienten in unserem Gesundheitssystem fühlen. Vom Hausarzt verwandelte ich mich in einen Neffen, der sich um seinen kranken Onkel sorgt. Dieser ist 84 Jahre alt, ehemaliger Landwirt, war bis vor einem Jahr noch sehr rüstig und ging sogar noch zum Holzfällen in den Wald. Seitdem plagten ihn zunehmend eine Gangstörung, Vergesslichkeit sowie Harninkontinenz. Seine Familie machte ihm vor einem dreiviertel Jahr einen Termin bei dem Neurologen Dr. R., der in der benachbarten Universitätsstadt als „Kapazität“ gilt. Dr. R. führte korrekt die notwendige Diagnostik durch und erzählte meinem Cousin etwas von „zu hohem Druck des Gehirnwassers“ bei seinem Vater, wogegen man aber aufgrund des hohen Alters nichts mehr machen könne. Gegen die zunehmende Vergesslichkeit bekomme er aber ein wunderbares neues Pflaster und einmal im Vierteljahr solle er zum Gedächtnistraining zu der bei ihm angestellten Psychologin kommen.
Vor 2 Wochen berichtete mir meine Cousine, dass sich der Zustand meines Onkels massiv verschlechtert habe. Mein Onkel brauche eine halbe Stunde, nur um aus dem Bett aufzustehen, und zur Vergesslichkeit komme zunehmend Verwirrtheit. Erst jetzt erfuhr ich von meinem Cousin, dass ein „zu hoher Hirndruck“ vorliegt und begann, über die Erkrankung zu recherchieren. In der sehr guten Leitlinie der "Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften" (AWMF), erfuhr ich, dass die Erkrankung „Normaldruckhydrozephalus“ heißt und in Wahrheit sehr gut behandelbar ist, nämlich durch Liquorpunktionen und durch eine so genannte Shunt-Operation, bei der die überflüssige Liquorflüssigkeit mittels eines kleinen Schlauchs in die Bauchhöhle abgeleitet wird.
Sofort versuchte ich, Dr. R. anzurufen, um ihn zu fragen, aus welchen Gründen diese Behandlung bei meinem Onkel nicht durchgeführt worden ist. Doch in seiner Praxis war das Telefon dauerhaft besetzt und außerhalb der Sprechzeiten war nur eine Ansage vom Band zu hören. Insgesamt habe ich in 10 Tagen über 50 mal in der Praxis angerufen und bin kein einziges Mal durchgekommen. Am 3. Tag schickte ich ein Fax mit Bitte um Rückruf an Dr. R., auf dass ebenfalls nicht reagiert wurde. Nach einer Woche schickte ich schließlich ein Fax, in dem ich Dr. R. ankündigte, nach Ablauf einer Dreitagesfrist seine fehlende Erreichbarkeit der Kassenärztlichen Vereinigung zu melden, von der er sein Geld bezieht. Noch am selben Abend rief er mich um 21 Uhr an. Wie ich es wagen könne, ihm zu drohen. Dass man ihn nicht erreiche sei normal, er arbeite schließlich viel. Er dürfe mir aufgrund der Schweigepflicht ohnehin rein gar nichts sagen und habe sich soeben erst die Einverständnis meines Cousins eingeholt. Danach ließ er mich endlich zu Wort kommen und meine Bedenken hinsichtlich der Therapie meines Onkels schildern. Danach plusterte er sich erneut auf: wer ich denn überhaupt sei, er sei doch der Experte, er besitze sogar ein eigenes Zentrum für Demenzerkrankungen in der Stadt und behandele meinen Onkel mit einem der neuesten Demenzpflaster. Auf meinen Einwand, dass dieses Pflaster aber nicht die Ursache der Erkrankung, nämlich den erhöhten Hirndruck, beseitige und dass die Leitlinien eine Shuntoperation, oder bei nicht operationsfähigen Patienten zumindest wiederholte Liquorpunktionen vorschreiben, lenkte Dr. R. zum ersten Mal ein: nun gut, ich solle meinem Onkel einen Aufnahmetermin in der neurologischen Klinik verschaffen, damit dort eine Liquorpunktion vorgenommen werde. Danach beendete er das Gespräch.
Kommende Woche hat mein Onkel den Termin und ich hoffe, dass die Folgen der viel zu spät eingeleiteten Behandlung nicht allzu groß werden. Durch den erhöhten Hirndruck, wird das Gehirn zum Teil unwiederbringlich geschädigt, aber laut Studien soll sich zumindest die Gehfähigkeit wieder verbessern.
Aus jetziger Sicht beurteile ich das Verhalten von Dr. R. wie folgt: in dem von ihm aufgebauten Demenzzentrum behandelt er vor allem Alzheimerpatienten, ist also am Krankheitsbild des Normaldruckhydrozephalus nicht interessiert. Er führt Studien mit einem neu auf dem Markt erschienen Pflaster gegen Demenz durch, das noch in keiner Leitlinie erscheint und für dessen Anwendung er höchstwahrscheinlich Geld von der Pharmaindustrie bekommt. Kassenpatienten bestellt er vierteljährlich in sein Gedächtniszentrum ein, ohne sie persönlich zu sehen. Da durch seinen Ruf als „Kapazität“ die Patienten zu ihm strömen, sein Kassenbudget aber schon voll ist, lässt er den Hörer neben das Telefon legen, um nicht von lästigen Kassenpatienten und ebenso lästigen Hausärzten gestört zu werden. Privatpatienten erhalten meiner Vermutung nach eine separate Durchwahlnummer.
Ich habe inzwischen mit einem Neurochirurgen von der Uni München gesprochen, der mir berichtete, er würde auch 90jährige Patienten mit einem Shunt versorgen. Darin liege die einzige Möglichkeit, eine Schwerstpflegebedürftigkeit zu verhindern. Sollte ich diese Aussage von weiteren Stellen bestätigt bekommen, werde ich über die Ärztekammer ein Verfahren wegen schwerem Behandlungsfehler gegen Dr. R. einleiten und an dieser Stelle davon berichten.
Autor: Dr. Heuteufel
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